Sonntag, 30. Januar 2022

Liebe

„Uroma, ich habe da mal ne Frage... Geht die Liebe nicht nach all den Jahren irgendwann verloren?" 

Der hochgeschossene, junge Mann ist sichtlich verlegen, aber wen soll er auch sonst fragen, als seine 94 jährige Uroma, die seit 72 Jahren mit dem Uropa zusammen ist und mit denen er vergangenen Sommer das seltene Fest der Gnaden-Hochzeit, 70 Jahre, gefeiert hat? 

Nach knapp 3 Jahren Freundschaft mit seiner allerersten Liebe fängt der junge Mann an, die Beziehung zu hinterfragen. Das Verknalltsein ist vorbei, die Schmetterlinge sind verkümmert, der Reiz verflogen, er verbringt wieder lieber Zeit mit Freunden oder beim zocken und er macht sich Gedanken, ob das so normal ist. 

Die alte Frau richtet sich auf und entgegnet: 

„Nein. Ich liebe den Uropa immer noch so wie früher. Wenn du jemanden so sehr liebst, geht das nicht einfach weg. Die Liebe verändert sich: sie wird tiefer, ruhiger, verzeihender, aber sie geht niemals weg. Wenn sie weg geht, ist es keine Liebe gewesen.“ 

Es dauert noch ein paar Wochen, in denen er sich Gedanken darüber macht, was seine Uroma zu ihm gesagt hat, dann trennt sich der junge Mann von seiner Freundin. 

Vor ein paar Tagen hat mir mein Murkel – ja, er ist der inzwischen fast 18jährige junge Mann – diese Geschichte erzählt. Dass er sich von seiner Freundin getrennt hat und wie er sich bei meiner Mutter an Weihnachten, kurz vor ihrem Tod, Rat geholt hat. 

Mein Mutschle, eine Frau mit Gespür und Lebensweisheit, vermittelt dem Urenkel die im Lauf des Lebens gewonnenen Erfahrungen und bringt ihn zum nachdenken. 

Und ich sitze hier und habe was im Auge.